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eraser
(Autistenbereich)

Ein historisches Fundstück aus der guten alten Zeit vor der Rechtschreibreform. Ich weiß wie immer nicht genau, was ich mir dabei gedacht habe und bin gespannt auf Eure Meinung.
LGE


„Faltbeiners Oma“

Es war am Weihnachtsabend.
Die Straßen lagen wie ausgestorben. Frischer Schnee war gefallen. Ein paar einzelne dünne Flocken stoben durch den orangenen Lichtkegel einer Laterne und senkten sich sanft über Faltbeiners Fußstapfen. Er lief frierend umher und spitzte in die warm beleuchteten Stuben. Er tat das, um sich einsam zu fühlen. Er wollte leiden. Etwas fühlen. Er ging ein paar Schritte rückwärts, dann blieb er stehen und musterte seine einsame Spur, als blicke er auf sein Leben zurück. Er überlegte, wieso bei ihm immer alles anders war, er Dinge sah, die nicht da waren und Stimmen und Musik in seinem Kopf entstanden. „Der Führer hat mir die Hand geschüttelt und nichts hat sich verändert!“, hörte er sagen. Er lachte kurz über seine merkwürdige Eingebung. „Der Führer hat mir die Hand geschüttelt!“, sagte er zu seiner Fußspur. Er wollte weiterlaufen, im Umdrehen bemerkte er den Schneehaufen zu seinen Füßen und versuchte, noch im Fallen, sich abzufangen.
Das mißlang. Er war wieder einmal viel zu langsam und zur Strafe schlug er lang hin. Wütend auf sich selbst rappelte er sich hoch und trat den Schneehaufen. Dabei wurde etwas dunkles sichtbar, das darunter verborgen gewesen war, ein Stück von einem Mantel. Er kniete nieder und schob den Schnee beiseite. Eine tote alte Frau kam zum Vorschein, sie sah ein bißchen aus wie seine letzte Frau, Sabine, nur viel älter. Faltbeiner sah sich um: Nirgendwo war ein Telefon. Es war auch kein einziger Mensch zu sehen, der ihm hätte helfen können. Die Leiche war noch nicht steif, aber eiskalt. Sicher war die arme Alte erforen, eine Wunde war jedenfalls nicht zu entdecken. Faltbeiner packte die Tote kurzerhand über die Schulter und lief zurück zu seiner Wohnung.
Er legte sie in den Korridor und wählte den Polizei-Notruf. Doch plötzlich meinte er, die Leiche stöhnen zu hören, gerade, als er verbunden wurde. Schnell legte er wieder auf und beugte sich über die Frau. Hatten ihm seine unzuverlässigen Sinne wieder einmal einen Streich gespielt? Nein, die Frau war wohl doch nur bewußtlos gewesen. Nun kam sie wieder zu sich.

Später, als sie bei einer Tasse Tee beieinander saßen, versuchte Faltbeiner, der Frau ihren Namen zu entlocken, was allerdings nicht gelang. Sie lächelte, nein, sie strahlte Faltbeiner nur in einem fort an und nickte.
Faltbeiner rief abermals die Polizei an. „Hören sie,“ sagte er, „Ich haben eine alte Frau im Schnee gefunden, die ihren Namen nicht weiß.“ „Wir werden das überprüfen.“, sagte die Beamtin am anderen Ende der Leitung und legte auf. Faltbeiner saß ratlos da. Die Frau begann indes, das Teegeschirr abzuräumen und Faltbeiners Küche zu putzen. Dann buk sie Plätzchen. Faltbeiner beobachtete sie. Die Polizei rief nicht zurück. Er zog die Alte aus, streifte ihr eins von Sabines Nachthemden über und legte sie auf Sabines Seite. Dann ging er selbst zu Bett. Die Oma schnarchte ganz leise, wie Sabine. Auch am nächsten und am übernächsten Tag rief die Polizei nicht zurück. Faltbeiner ergriff selbst die Initiative. „Es wird niemand vermißt.“, sagte die Beamtin. „Aber wenn sie wollen, holen wir sie ab und bringen sie in ein Asyl.“ „Nein, nein.“, sagte Faltbeiner. „Das hat ja Zeit bis nach die Feiertage. Sicher melden sich die Angehörigen bald.“
So blieb die Oma bei Faltbeiner. Sie kochte und putzte den ganzen Tag. Sobald Faltbeiner eine Zigarette ausdrückte, leerte sie den Ascher. Sobald er von der Toilette kam, putze sie sofort das ganze Bad. Faltbeiner begann, sich an seine neue Situation zu gewöhnen. Die Oma aß wenig und war von großem Nutzen. Außerdem lächelte sie immer und schnarchte genau wie Sabine. Faltbeiner wünschte sich fast, die Oma behalten zu können. Sie störte ihn nicht bei seiner Arbeit, im Gegenteil, dadurch, daß sie sich um den Haushalt kümmerte, hatte er nun viel mehr Zeit. Deshalb schlug er den Beamten, die nach Neujahr bei ihm auftauchten, um die Anzeige aufzunehmen, vor, die Oma zu beherbergen, bis ihre Angehörigen ausfindig gemacht worden wären. Dann ging er in die Stadt und kaufte ihr kochfeste Leibwäsche, Gebißreiniger und dunkelblaue Wolle sowie Stricknadeln. Genau wie er gehofft hatte, begann sie sofort mit der Herstellung eines Pullovers. Nun saßen sie abends oft beisammen, sie strickte und er computerte oder betrank sich. „Na, Oma.“, sagte er manches Mal, „Strickst du schön, ja?“ Und dann hielt sie stolz den Pullover hoch, strahlte ihn an und strickte weiter.

Mitte Januar, an einem Donnerstag, klingelte es bei Faltbeiner und ein Pärchen um die Fünfzig stand vor seiner Tür. Er war groß, knochig und trug einen Backenbart, sie war klein und stämmig und hatte eine irgendwie verschnittene Ponyfrisur. Wegen ihrer dunklen Augen und dem Grübchen am Kinn war ihm sofort klar, wen er da vor sich hatte sie bestätigte seine Vorahnung: Sie war Helga, die Tochter der Oma, mit Eberhard, ihrem Mann. Faltbeiner bat das Pärchen herein. Die Oma strahlte. „Mensch, Mutter, was machst du bloß!“, sagte Helga. „Wir haben uns so gesorgt!“ Dann wandte sie sich an Faltbeiner. Sie sprach schnell und hektisch und wedelte mit den Armen vor Faltbeiners Gesicht herum, während sie die Wohnung nach den Sachen ihrer Mutter absuchte. „Immer hat sie angerufen, müssen sie wissen. Wenn etwas war. Aber dann - Funkstille. Wochenlang! Eberhard und ich sind zur Wohnung - leer! Ich sag, Eberhard, wir fahrn zur Polizei. Die sagen: Was? Wie sieht die aus? Da hat einer eine ältere Dame gefunden, das ist sicher ihre Mutter, wir suchen schon überall nach ihnen!“ Helga erblickte den Mantel ihrer Mutter an der Garderobe und stopfte sie zügig hinein, während sie weiter unablässig redete: „Ich bin ja so froh! Wenn sie Auslagen hatten - wir kommen dafür auf! Das sie so schnell abbaut - wissen sie, die hat sich ja in ihrer Wohnung immer noch ganz gut zurechtgefunden, aber das ist klar, wenn die auf die Straße läuft - die findet nicht zurück! Wir haben jetzt einen Platz für sie im Magdalenen-Stift, da kümmert man sich rund um die Uhr!“
„Der Führer hat mir die Hand geschüttelt!“, rief die Oma, als sie das vernahm, entrüstet. Aber Helga ließ sich davon nicht beeindrucken. „Jaaa, Mutter. Na, wie gesagt, vielen Dank für alles. Hier ist meine Telefonnummer, wir rufen uns zusammen, komm, Mutter.“
Dann zog sie die Oma hinaus, Eberhard tappte schweigend hinterher und auch Faltbeiner folgte dem kleinen Pulk noch ein paar Schritte in den Hausflur. Auf der Treppe wandte sich die Oma nach ihm um und hob die Hand. Faltbeiner winkte zurück. Die Oma hatte all ihr Strahlen verloren, so unglücklich hatte er sie noch nie gesehen.
Er schloß die Tür und ließ sich auf sein Sofa plumpsen. Da lag der Pullover, der linke Ärmel war noch nicht eingenäht. Faltbeiner seufzte.

Anfang Februar hielt er es nicht mehr aus. Seine Wohnung war völlig verdreckt, ihn fror am linken Arm und nachts konnte er stundenlang nicht einschlafen, weil niemand neben ihm schnarchte. Er kaufte sich einen Busfahrschein und fuhr zum Magdalenen-Stift. Lange mußte er umherirren, bis er ihren Namen endlich auf einem Türschild entdeckte. Er trat in ein winziges Zimmer mit Kochstrecke, die Oma saß am Fenster und starrte in den Schnee. Sie bemerkte Faltbeiner erst, als er sie sanft an der Schulter rüttelte, erkannte ihn aber sofort und strahlte ihn an. Faltbeiner holte ihren Mantel. Sie stand auf, daß ihr dabei ein großer, schwerer Gegenstand vom Schoß auf den Boden glitt, schien sie nicht zu bemerken. Sie strahlte Faltbeiner nur in einem fort an und schlüpfte schnell in den Mantel. Faltbeiner hob den Gegenstand auf. Es war ein häßliches altes Fotoalbum. Er packte ein paar Wäschestücke in einen kleinen Koffer, den er im Schrank fand, das Album legte er obenauf. Dann nahm er die Oma an der Hand und lief zum Bus.
Später, bei ihm zuhause, als sie den fehlenden Ärmel in den Pullover nähte, nahm er sich das Album vor. Er war sehr gespannt auf all die alten Bilder und Erinnerungen. Seite um Seite blätterte er durch, doch das Album war völlig leer.
12.01.08, 03:31:28
Link
55555
(Fettnäpfchendetektor)

Zitat:
Ein paar einzelne dünne Flocken stoben

stieben?
Zitat:
Er lief frierend umher und spitzte in die warm beleuchteten Stuben.

Was bedeutet "spitzte" in dem Zusammenhang?
Zitat:
hat sich verändert!“, hörte er sagen.

sich sagen?
Zitat:
„Ich haben eine alte Frau im Schnee gefunden,

habe

Die Geschichte gefällt mir schon eher, sie macht nachdenklich bezüglich der Geringschätzung von Alten. Ich finde sie aber eher etwas zu glatt. Wenn das so sein soll, dann ist das eben so.

Mancherorts steckt man Eltern ins Gefängnis, die ihre Kinder aus ideellen Gründen nicht zum Arzt bringen. Anderswo schützt man fremde Kulturen mittels Strafen vor Kontakt und Einmischung.
12.01.08, 09:47:25
Link
L4A
(Standard)

geändert von: L4A - 13.01.08, 03:50:15

Hallo eraser!

Eine Novelle, eine Erzählung, keine Kurzgeschichte.

Mein Gefühl: Man kann die große Einsamkeit spüren, seine und die Ihrige. Es kommt von der Oma gut rüber dass sie dement ist. Und das Demente wenn gefordert, die Dinge die sie ihr Leben lang getan haben, noch gut können. Das die Beiden in der Lage wären sich gegenseitig zu helfen.

Die Geschichte ist am Anfang fast Märchenhaft und ich dachte bei mir:`Ob es sich um eine alte Fee oder ähnliches handelt?`Du hast mich also in diese unwirkliche Stimmung gezogen. Toll!

Ein bisschen erinnert mich diese Geschichte an solche in denen Männer Baumelfen finden und mit nach Hause nehmen, oder eine alte Hexe vielleicht.

Es stört mich das die Oma sehr devot ist, sie kommt wie ein dummes Ding rüber. Sie redet nicht, daher auch mein Gedanke Elfe, die sprechen ja unter Umständen unsere Sprache nicht. Laß sie ein wenig scharfzügig sein, vielleicht fängt sie in seinem Beisein über Hitler an zu schimpfen. Toll fände ich wenn sie ein Mutterkreuz durch die Bude pfeffern würde. Als Idee ...du hast sicher eine bessere als ich.

Das die erfrorene Oma sich so schnell erholen konnte, erscheint mir unwahrscheinlich. Unlogisch ist das sich so viel Schnee gebildet haben soll, das sie überhaupt nicht zu erkennen war.

Vielleicht wäre es besser wenn er seiner Spur zurück blickt, sie im unterkühlten Zustand auf einer Parkbank wahr nimmt. Und dann nach Hause nimmt.

Ein bisschen Textkram:
>den orangenen Lichtkegel<

orangefarbenen ist besser.

>und spitzte in die warm ..<

schaute, blickte wäre besser. Spitzte ist wohl Dialekt, ich kann mir zwar etwas drunter vorstellen, aber es passt irgendwie nicht.

>Das mißlang. Er war wieder einmal viel zu langsam ...<

Das mißlang kann weg, es ergibt sich aus dem Folgenden.

>Die Oma aß wenig und war von großem Nutzen.<

Uuuuuaaaahhhh .... bei dem Satz hats mich geschüttelt und meine Sympatie für den Alten war weg.

>Hier ist meine Telefonnummer, wir rufen uns zusammen, komm, Mutter.“<

wir rufen uns dann zusammen ist unglücklich ausgedrückt. Wir telefonieren miteinander, oder ich rufe sie an, rufen sie mich an wenn ich etwas vergessen habe klingt glaube ich besser.



>„Jaaa, Mutter. Na, wie gesagt, vielen Dank<

Ich fände Jaja besser. Jaaa klingt für mich genervt, Jaja eher abfällig wie es wohl auch gemeint ist.

>Anfang Februar hielt er es nicht mehr aus. Seine Wohnung war völlig verdreckt, ihn fror am linken Arm und nachts konnte er stundenlang nicht einschlafen, weil niemand neben ihm schnarchte.<

Laß ihn vor einer Spüle mit schmutzigem Geschirr stehen, oder sich fragen wann er das letzte mal etwas Warmes gegessen hat. Zeige mir wie das aussieht wenn die Wohnung verdreckt ist. Laß ihn Nachts an die Decke starren. Laß ihn die Wärme der Omi vermissen. Überhaupt, wie heißt sie eigentlich? Ich könnte sie mir besser vorstellen hätte sie einen. Ich könnte eine Beziehung aufbauen.

>Er trat in ein winziges Zimmer mit Kochstrecke<

Kochecke vieleicht?

>Sie stand auf, daß ihr dabei ein großer, schwerer Gegenstand vom Schoß auf den Boden glitt, schien sie nicht zu bemerken.<

Ich stolpere über den Gegenstand. Warum nicht gleich ein altes abgegriffenes Fotoalbum?

>Sie strahlte Faltbeiner nur in einem fort an und schlüpfte schnell in den Mantel.<

Hier wirds ein bisschen zuviel strahlen. Eigentlich kannd der Satz auch weg bleiben. Er fehlt nicht.

>Später, bei ihm zuhause, als sie den fehlenden Ärmel in den Pullover nähte, nahm er sich das Album vor. Er war sehr gespannt auf all die alten Bilder und Erinnerungen.<

Nahm er sich das Album vor ... da stolpere ich drüber, habe aber keinen Vorschlag.

Den Schluss habe ich nicht wirklich verstanden. Das leere Album an sich finde ich als Idee gut! Aber mir erschließt sich das im Zusammenhang mit der Geschichte nicht. Vielleicht stehe ich aber auch nur auf der Leitung.
12.01.08, 14:35:08
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