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Aber an die Kante des Erträglichen hat, wenn überhaupt, erst die Diskussion um Sterbehilfe geführt. Charakteristischerweise geht es in ihr nicht um technologische Chancen, sondern juristische Klauseln – nicht um das Mögliche, sondern um das Erlaubte. Wollen wir, dürfen wir das so oder so hergestellte Leben auch wieder beseitigen, wenn es seinem Inhaber oder womöglich nur seiner Umgebung (Verwandten, Ärzten) nicht mehr lebenswert erscheint? Und leider ergibt sich, wenn zum Lebensende eine Norm des Lebenswerten aufgestellt werden soll, auch zwingend der Rückschluss auf eine solche Norm zum Lebensbeginn – was darf überhaupt entstehen und was verschwinden? Und welcher Mensch hätte aufgrund welcher Kenntnis die Autorität, darüber zu befinden? Zum Glück für das Seelenheil unserer aufgeklärten Zeitgenossen ist diese Frage, als Probe auf ihre prometheische Selbstgewissheit, noch nicht so zugespitzt worden. Einstweilen regiert bei ihnen noch die naive Annahme von Evidenz: Man sähe schließlich, wenn es einem Menschen lieber wäre, tot zu sein.
Woher dieses optimistische Vertrauen auf die Intuition? Es handelt sich bei dem neuesten prometheischen Zugriff um die Natur im Menschen. Sie wird offenbar in einem höheren Maße als Verfügungsmasse angesehen als die äußere Natur. Im Umgang mit der Natur außerhalb des Menschen ist der Katzenjammer schon eingetreten; hier haben sich die bitteren Konsequenzen ihrer Beherrschung schon gezeigt. Es sind die Umweltkatastrophen, die weit über vergiftete Flüsse und Meere hinaus sich längst auch dort manifestieren, wo früher reine Natur zu regieren schien, in Tsunamis, Wirbelstürmen, Feuersbrünsten. Zum passenden Ausgang des Jahres ist in Berlin eine Serie von wissenschaftlichen Konferenzen gestartet worden, die sich mit dem neuen, von Menschen selbst gestalteten Erdzeitalter beschäftigen wollen – dem deshalb sogenannten Anthropozän. Es sind dabei aber bisher keineswegs nur Unheilspropheten aufgetreten, es gibt auch die Lobredner des Menschenerdzeitalters, die von der totalen technologischen Unterwerfung der Natur die Vollendung der Evolution erwarten.
Und natürlich erschöpft sich der neue prometheische Traum nicht in den Möglichkeiten von Medizin und Gentechnik. Es wird auch daran gearbeitet, den unzureichenden Naturkörper des Menschen digital zu erweitern, mit sinnesschärfenden, kognitionsverbessernden Chips zu versehen, womöglich als implantierte Schnittstellen zur Computerwelt. Hier gibt es für die Industrie viel zu verdienen, mit neuen Geräten, neuen Unterhaltungsangeboten. Wesentlicher ist aber die Beflügelung der Machbarkeitsfantasie, und sie könnte sich als reines Technikangebot wohl kaum so wirksam in den Köpfen festsetzen.