Zitat:
Ihr anerkennenswertes Anliegen ist es, die Rechte von Autisten in Gerichtsverfahren zu stärken. Zu Ihren Vorschlägen möchte ich mich wie folgt äußern:
Das Bundesjustizministerium ist stets bemüht, benachteiligten Mitbürgern und Mitbürgerinnen trotz ihrer Behinderung eine möglichst eigenständige und selbstbestimmte Teilhabe am Rechtsleben zu ermöglichen. Die von Ihnen in Bezug genommene Verordnung zur barrierefreien Zugänglichmachung von Dokumenten für blinde und sehbehinderte Personen im gerichtlichen Verfahren ist ein Beispiel hierfür.
Gleichermaßen sollte es auch Menschen, die anderweitig körperlich oder geistig benachteiligt sind, möglich sein, an gerichtlichen Verfahren teilzunehmen. Indes können rechtliche Vorschriften ein bestehendes Handicap nie vollständig auffangen, sondern immer nur einen Versuch darstellen, eine annähernde Gleichstellung aller Beteiligter zu erreichen. Nicht außer Acht gelassen werden dürfen dabei die Grundsätze eines rechtsstaatlichen Gerichtsverfahrens. Diese müssen gewährleistet bleiben. Sämtliche Verfahrensordnungen werden von solchen sog. Prozessmaximen geprägt. Von Ihren Vorschlägen zur Gestaltung der mündlichen Verhandlung sind insbesondere die Grundsätze der Mündlichkeit, der Unmittelbarkeit und der Öffentlichkeit berührt, aber auch der Beschleunigungs- und Konzentrationsgrundsatz.
Nach § 169 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) hat eine mündliche Verhandlung grundsätzlich öffentlich stattzufinden. Dies dient der Transparenz richterlicher Tätigkeit als Grundlage für das Vertrauen in eine unabhängige und neutrale Rechtspflege. Lediglich zum Schutze berechtigter Interessen der Parteien oder anderer Beteiligter wie z.B. Zeugen (insbesondere dem Schutz ihrer Privatsphäre) sieht das GVG partielle Einschränkungen vor. Eng verknüpft mit dem Grundsatz der Öffentlichkeit ist der in der Zivilprozessordnung (ZPO) in § 128 Abs. 1 geregelte Grundsatz der Mündlichkeit der Verhandlung, welcher durch den Unmittelbarkeitsgrundsatz, d.h. der Erörterung des Prozessstoffes vor dem erkennenden Gericht (§§ 285, 355 ZPO) ergänzt wird. Lediglich mit Zustimmung der Parteien kann ein Urteil im schriftlichen Verfahren ergehen (§ 128 Abs. 2 ZPO).
Ihre Anregung, Verhandlungen schriftlich in einem virtuellen Forum stattfinden zu lassen, wird diesen allgemein anerkannten Verfahrensgrundsätzen nicht gerecht. Der Vorschlag, die Verhandlung durch Stellungnahmen binnen einer gewissen Zeitspanne zu ersetzten, kollidiert zudem mit dem Grundsatz, einen Rechtsstreit beschleunigt und konzentriert, möglichst in einem umfassend vorbereiteten Verhandlungstermin zu erledigen (§ 272 ZPO).
Allerdings sieht das Gesetz bereits jetzt schon Möglichkeiten vor, die Ihrem Anliegen entgegenkommen: Wie bereits erwähnt, kann – allerdings nur mit Zustimmung beider Parteien – ein Urteil auch ohne mündliche Verhandlung im schriftlichen Verfahren ergehen.
Weiterhin wurde durch das am 01.01.2002 in Kraft getretene ZPO-Reformgesetz das Erfordernis der körperlichen Präsenz bei einer mündlichen Verhandlung durch die Zulassung einer Bild- und Ton-Übertragung aufgelockert. Nach § 128 a ZPO kann das Gericht den Parteien sowie ihren Bevollmächtigten gestatten, sich während einer Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen. In diesem Zusammenhang kann bereits jetzt schon autistischen Menschen ein Verbleib in einer ihren Bedürfnissen angepassten Umgebung ermöglicht werden. Bislang setzt dies jedoch noch das Einverständnis beider Parteien voraus. Weiterhin kann ich Ihnen hierzu mitteilen, dass dem Bundestag zu diesem Themenkomplex bereits ein Entwurf des Bundesrates für ein Gesetz zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltlichen Verfahren vorliegt (Bundestags-Drs. 16/7956). Dieser Entwurf sieht als eine der wesentlichen Änderungen für das zivilprozessuale Verfahren vor, dass der Einsatz von Videokonferenztechnik nicht mehr vom Einverständnis beider Parteien abhängig sein soll - und damit nicht zwingend an einer Weigerung des Gegners scheitern muss -, sondern auf Antrag einer der Parteien ins pflichtgemäße Ermessen des Gerichts gestellt wird. Bei der Ausübung dieses Ermessens hätte das Gericht dann auch die Besonderheiten autistischer Beteiligter in die Abwägung mit einzubeziehen.
Ich hoffe, mit diesen Ausführungen zu Ihrem Verständnis der Rechtslage beigetragen zu haben. Weitergehende Änderungen der Gesetzeslage halte ich aus den dargelegten Gründen derzeit weder für möglich noch geboten.