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Insbesondere bei Inklusionsfeldern wie sexueller Identität oder Behinderung liegen die Nerven blank. Im Blick auf die Einwände, die gegen die umstandslose Übersetzung von sozialer Gerechtigkeit in den politischen Kampfbegriff der Gleichstellung vorgebracht werden, versteht Frau Allmendinger die Welt nicht mehr. Sie fragt: „Warum ist die Inklusion in Deutschland noch immer so umstritten?“ Noch immer? Immer mehr! Immer mehr zeigt sich der utopische, weltfremde Charakter einer Heilsidee, die über keinen positiven Begriff von Ungleichheit verfügt. Als ergäbe sich aus der Gleichheit vor dem Gesetz (oder vor Gott) die Notwendigkeit, jedweden empirischen Unterschied zu ignorieren.
Nicht jeder kann alles. Und nicht jeder kann das, was er kann, genauso gut wie jemand anderer, der es besser kann. Die Pointe der Inklusionssemantik liegt aber darin, jeden Unterschied als Ungleichheit zu deuten und jede Ungleichheit als Ungerechtigkeit. So wird unter der regulativen Idee der „Vielfalt“ (Schule der Vielfalt, „diversity management“ in Unternehmen) ein egalitäres Anspruchsdenken installiert, das so weit geht, Unterschiede als solche möglichst gar nicht mehr namhaft zu machen. Geschlecht, Behinderung, Alter oder Intelligenz gehören dann gar nicht erwähnt, sie erscheinen als bloße Zuschreibungen im Auge des Betrachters.
Die Analyse kategorialer Unterschiede wird als Essentialismus geschmäht, dem ein naiver Wesensbegriff zugrunde liege. Die propagierte Dekategorisierung („alles ist Zuschreibung“) vollzieht sich aber zunehmend auf dem Rücken der Betroffenen. Frau Allmendinger beispielsweise macht unfreiwillig die diskriminierenden Folgen für die Behinderten sichtbar, ja, befördert sie selbst. So kritisiert die Arbeitsmarktforscherin, „dass viele Bundesländer Inklusion fördern wollen, ihr Förderschulsystem aber unangetastet lassen“. Sie fordert, „Förderschulen konsequent zu schließen“ – und lässt damit die Katze aus dem Sack.
Diskriminierung durch Ausblenden
Inwiefern? Die Antwort lautet: Wenn schwer und mehrfach Behinderte als solche nicht mehr bezeichnet werden dürfen, dann fallen sie über kurz oder lang auch als Träger eines besonderen Förderbedarfs aus. Dann kann man Sonder- schulen schließen, ohne zu wissen, wie diese ihrer speziellen Betreuung beraubten Kinder und Jugendlichen auf inklusiven Schulen zurechtkommen sollen.
Denn das sind Schulen, die – ohne klare Perspektiven für die finanzielle und personelle Ausstattung – derzeit in der Regel Provisorien nach dem Prinzip Daumendrücken darstellen. Vergleichsdaten zur Inklusion aus dem Ausland beziehen sich bei näherem Hinsehen auf andere Förderkriterien, werden aber hierzulande propagandistisch ausgeschlachtet.
Heute steht man vor dem Paradox, dass die begriffliche Gleichstellung der Unterschiede – ihr Unsichtbarwerden – recht eigentlich erst die lebensweltliche Diskriminierung schafft, die man doch verhindern will. Man kann im Interesse der Betroffenen nur davor warnen, die unterschiedlichen Bedürfnisse so weit zu nivellieren, dass sie am Ende nicht mehr geltend gemacht werden können.
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Ein behindertes Kind, so Otto Speck, kann in seiner Teil-Lebenswelt – einer Sonder- oder Förderschule – sich durchaus inkludiert fühlen und doch zugleich von einem externen Bezugspunkt aus als exkludiert betrachtet werden. Dies betrifft jedoch alle, nicht nur behinderte Kinder. Nicht jedes Kind kann an Hochleistungssportkursen und Musikklassen teilnehmen; Kategorien wie Begabung und körperliche Disposition können nicht einfach getilgt werden. Die Frage ist doch: Warum und wie sollte man solche Ungleichheiten kompensieren müssen? In welchem Wolkenkuckucksheim fühlt sich keiner mehr durch irgendwen und irgendwas zurückgesetzt?
Die inklusive Gesellschaft, diese bewusst unscharf gehaltene politische Leitidee, ist eine große Augenwischerei. Sie hantiert mit Erwartungen, die man seinen eigenen Kindern nicht früh genug ausreden kann. Vielfalt bedeutet, das Individuelle zuzulassen, statt es per Etikettenschwindel abzuschaffen. Was inklusive Dogmatiker wie Frau Allmendinger nicht sehen wollen, sind die Grenzen der Gemeinschaft: Wünschen hilft nicht immer weiter.