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An alternativen Theorien zum Ursprung und den neurobiologischen Fundamenten von ASS mangelt es also nicht. Als Wissenschaftsjournalist und Vater eines Betroffenen kenne ich die Flut der neuen Thesen und Befunde allzu gut – im Durchschnitt bekomme ich mehr als eine pro Tag auf den Bildschirm, und das seit 20 Jahren. Den versprochenen Durchbruch hat bisher aber keine dieser Neuerungen gebracht.
Die Intense World Theory fand und findet vor allem bei Autisten mit milderen ASS-Ausprägungen Anklang. Im Vergleich zu Personen am anderen Ende des Autismus-Spektrums – deren soziale Kommunikationsfähigkeit in der Regel stark eingeschränkt ist und die intensive, lebenslange Betreuung benötigen – können sie ihre Erfahrungen gut beschreiben. Im 2018 erschienenen Buch des Journalisten Lorenz Wagner über die Markrams zitiert dieser auch einige Briefe, die Betroffene an die Familie gesandt haben. So schreibt eine Leserin namens Kate: »Ich bin eine Asperger (Ein gebräuchlicher Begriff für einen milden »Autismus-Subtyp«; in der neuesten Version der »Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme«, der ICD-11, wird das Erscheinungsbild als Teil der ASS geführt; Anm. d. Red.), die mit Freude Ihre ›Intense World Theory‹ gelesen hat. Endlich finden Leute ohne Autismus raus, was wir Autisten euch all die Zeit gezeigt (und gesagt) haben!« Ein anderer Leser, Fabrizio, schreibt: »Ich bin 40 Jahre alt und wurde gerade erst diagnostiziert. Ihre Theorie weckte in mir das Gefühl, dass mich zum ersten Mal einer versteht. Ich empfinde die Welt als zu schnell, zu laut, zu intensiv.«
Auf die erzieherische Praxis hat die These bisher offenbar nur bedingt Einfluss. Einer erfahrenen Sonderpädagogin in Oxford, mit der ich gesprochen habe, war die Intense World Theory zum Beispiel kein Begriff. Die Psychologin Felicia Hurewitz, Leiterin des Drexel Autism Support Program beim Beratungsdienst EdMent in Philadelphia, USA, berichtet hingegen, aus dem Ansatz abgeleitete Maßnahmen wie etwa die Abschirmung vor überraschenden und zu starken Reizen würden durchaus verwendet, jedoch ohne direkte Bezugnahme auf die Intense World Theory. Elizabeth Farnden, die in London eine Schule für autistische Kinder führt, geht pragmatisch vor. Sie bietet den Kleinen eine stimulierende Umgebung, die die Reizdichte der Außenwelt reflektiert. Reizarme Rückzugsräume stehen aber zur Verfügung, wenn sie gebraucht werden.
Nicht nur unter Autisten findet die Theorie der Markrams Anklang – auch manche Wissenschaftler wollen das Modell nicht ganz ablehnen. »Ich persönlich schätze die Intense World Theory, da sie von nicht wenigen autistischen Menschen im Hinblick auf spezifische Wahrnehmungsbesonderheiten ›bestätigt‹ wird«, erklärt Georg Theunissen, emeritierter Professor für Pädagogik bei Autismus an der Universität Halle-Wittenberg. Er meint aber, aus solchen Thesen hervorgehende Anwendungsvorschläge müssten immer kritisch diskutiert werden. Zudem gäbe es zahlreiche weitere Ansätze, die sich auf die veränderte Wahrnehmung von Autisten beziehen. Dazu zählt zum Beispiel die zuvor genannte Divisive Normalisation Theory sowie das Modell der erweiterten wahrnehmungsbezogenen Funktionsfähigkeit. Dieses geht wie Uta Friths Weak Central Coherence Theory davon aus, dass die Wahrnehmung von Autisten sich prinzipiell von der nicht Betroffener unterscheidet. Bei Ersteren sei das Gehirn eher darauf ausgerichtet, Details zu erfassen und zu verarbeiten – diese Personen zeichneten sich durch ein »Bottom-up-Denken« aus. Nichtautistische Menschen gelten hingegen als »Top-down-Denker«. Sie gehen demnach vom Allgemeinen aus, hin zum Speziellen. Außerdem gäbe es Anzeichen dafür, dass bei zahlreichen Autisten das wahrnehmungsbezogene Denken dominiert, während Nichtautisten eher sprachbezogene Denker sind.