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Autor Nachricht
Wursthans
(stillgelegt)

Was ist ein Tunnelblick?
_OO_
23/05/2006 06:07

Sheila** hat in einem anderen Unterforum den sogenannten Tunnelblick erwähnt den Autisten tendentiell haben sollen. Wie geht es anderen Autisten und Nichtautisten?

Ich stelle mir den Tunnelbick als Phänomen derzeit so vor wie die Sicht bei schneller Fortbewegung, beispielsweise mit einem Motorrad. Haben Nichtautisten im Alltag eine andere Sicht als eine damit vergleichbare?

[Auf eigenen Wunsch deaktiviert und anonymisiert, mfg [55555]]
13.06.06, 15:41:24
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DrChaoZ
(Autistenbereich)

RE: Was ist ein Tunnelblick?
DrChaoZ
26/05/2006 18:01

ich kenne das tunnelblick phänomen in folgenden formen.

1. der gewollte kontrollierte tunnelblick
2. der ungewollte tunnelblick

zu 1.:
wenn ich mich in reizüberflutenden situationen befinde (supermarkt, frisör, grosse menschenansammlungen etc) dann konzentriere ich bewusst meine aufmerksamkeit über das sehen auf ein element. dies kann eine person, ein gegenstand oder ein gedanke sein. mit dieser technik ist es mir möglich in solchen situationen weiterzufunktionieren auch wenn es nach aussen so aussehen mag als sei ich gerade geistig weggetreten. diese form des tunnelblicks hilft mir dann sehr beim einkaufen weil die dinge nach denen ich suche in meinem blickfeld sind. dies funktioniert allerdings nur wenn ich genau weiss wonach ich suche. bei sozialer interaktion besteht der tunnelblick darin dass ich mich auf nur eine person und die interaktion mit ihr konzentriere. von dem was dann drumherum ist bekomme ich nichts mit. werde ich während des tunnelblickens gestört verliere ich leicht die orientierung. der gewollte tunnelblick hilft mir auch sehr wenn ich programmierprobleme lösen will oder wenn ich syntaktische fehler in quellencodes suche. in diesem falle suche ich gar nicht nach bestimmten schlüsselworten sondern ich betrachte nur die ‘form‘ des programmes also sein muster. sind dort irgendwo ‘brüche‘ drin, also kleine hässliche stellen dann ist dort meist der syntaxfehler.

zu 2. der ungewollte tunnelblick:
dieser wird von aussen induziert und ist stimmungsabhängig. meist geschieht es kurz nach dem aufwachen wenn ich mich von der traumwelt wieder auf die realität einstellen will. ich bin dann von aussen nicht richtig ansprechbar und kann nicht richtig reden. nur einsilbige bemerkungen meiner seits sind dann möglich. mir wird dann oft vorgeworfen ‘ich sei mit dem falschen bein‘ aufgestanden. der ungewollte tunnelblick war in der schule oft ein problem weil ich im gegensatz zum gewollten tunnelblick dann eben nicht das wichtige detail erfasst habe sondern ein unwichtiges. ich bin also mit meiner aufmerksamkeit nicht bei dem was ich tuhe. aktives geplantes handeln ist in diesem zustand nur unter grösstem inneren aufwand möglich. meist gelingt es mir aber mich aus diesem zustand herauszuziehen in dem ich mir wahrnehmungseindrücke zuführe. dies ist meist eine tasse kaffee.

ich kenne den tunnelblick nicht nur als visuelles phänomen sondern er existiert auch übertragen auf andere wahrnehmungen. manchmal geschieht es mir dass ich tunnelblickig argumentiere weil ich von einem problem nur teilaspekte sehen kann. im zustande des tunnelblickens nehme ich andere personen nur schemenhaft als gegenstände war und es kann möglich sein dass ich erst nach wiederholtem ansprechen reagiere oder erst nach anfassen, was mich dann aber sehr erschreckt.

übertragen auf ein bild würde ich den tunnelblick wie folgt beschreiben:

es existiert ein wahrnehmungsraum der angefüllt ist mit einer fülle von informationen. die normale wahrnehmung besteht dann in einer wahrnehmungskugel um das persönlichkeitszentrum herum. der radius dieser kugel ist nicht sehr ausgedehnt. viele verschiedenartige eindrücke dringen in das bewusstsein ein. beim tunnelblicken wird der radius stark erweitert aber die kugel verformt sich zu einem kegel der nur in eine bestimmte richtung gerichtet ist. somit ist die detailschärfe der wahrnehmung und die tiefe viel höher aber mit oben genannten seiteneffekten. im extremfall kann der tunnelblick dann von einer kegelform zu einer linienform werden. wenn es so weit ist ist es am besten wenn ich mich sofort schlafen lege damit ich den wahrnehmungstunnel durch träumen wieder erweitern lassen kann. das erweitern des wahrnehmungstunnels kostet energie und konzentration. wenn man ich mich passiv ‘treiben lasse‘ dann verengt er sich automatisch wieder.
13.06.06, 16:19:24
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Lisa M.
(Standard)

RE: Was ist ein Tunnelblick?
Lisa_M.
26/05/2006 18:13

Ich überlege, ob es was mit Tunnelblick zu tun haben kann, was mir öfter mal passiert: Wenn ich eine Frage, die mich beschäftigt hat, für mich gelöst habe, taucht oft alles mögliche wieder auf... Das kann sogar so weit gehen, dass der Raum weiter wird - schwer zu erklären, halt so, als würde ich bei ‘ner Kamera durch ein anderes Objektiv blicken. Also wirklich ein visueller Eindruck.

Aber auch anderes kann auf ähnliche Weise auftauchen - z.B. war vor einiger Zeit nach der Erlangung von etwas mehr "innerem Durchblick" in einer bestimmten Frage plötzlich die Musik wieder da. Nicht nur, dass ich sie wieder mit Genuss hören konnte, sondern auch, dass plötzlich jede Menge schöner CD‘s da waren, wo eine Zeit lang nur ein Haufen Krempel war.

Sämtliche Angaben erfolgen nach bestem Wissen und Gewissen, im Bemühen um Logik, Nachprüfbarkeit und Einhaltung der kulturell bedingten Realitätsvereinbarung.
13.06.06, 16:19:42
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arlette
(Autistenbereich)

ich kenne diesen tunnelblick auch. alles andere ist mir dann nicht mehr wichtig, nur dieser kanal zu meinem interesse/ziel/plan. das kann auch ganz klar räumlich passieren. das andere sehe ich nicht mehr, ist irgendwie nicht relevant und vernebelt.

mit methylphenidat (weil ich auch ads bin) habe ich nun einen 'gläsernen' tunnelblick, was anfangs bizarr war. der tunnelblick ist immer noch da, aber er hat eine 'glaswand', die ausseneindrücke werden irgendwie besser sortiert, sie sind etwas schärfer --> ich kann das wie 'aus den augenwinkeln' wahrnehmen, aber es ist für mich nach wie vor immer noch nicht relevant.

dem tunnelblick sage ich - bei themen, die mich beschäftigen - auch hyperfokus. es ist für mich enorm schwierig, diese gedankenpfade zu verlassen, auch wenn gute argumente kommen. das braucht zeit. zu diesem thema habe ich auch herausgefunden (rückmeldung der thera), dass ich offenbar 'nur' details wahrnehme, jedoch enorm viel 'aufgepixelter' als NA's. die haben also scheinbar keinen tunnelblick, sondern die gesamtszenerie vor sich, und wählen locker und bewusst, was sie nun genau fokussieren. da habe ich nun einige NA's gefragt. immer, wenn die mir das erzählen, stelle ich mir dies sehr, sehr anstrengend vor. ist es aber für sie offenbar nicht.
15.06.06, 23:29:16
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christian_k
(Autistenbereich)

Hallo,

ich denke schon, dass "unsere" Warnehmung anders ist.

Ein Beispiel waren Videokurse, an denen ich teilgenommen habe. Es handelete sich um Workshops an einer Kunstschule, an denen ich mehrmals teilnahm. Ziel war, dass jeder Kursteilnehmer einen eigenen Kurzfilm erstellen sollte, mit Vorbereitung, Drehen, Nachbearbeiten usw. Es ging eindeutig um "Video als Kunst", also nicht "Urlaubsvideo" oder dergl.

Es war zu einer Zeit, in der ich zwar von Autismus wusste, mich aber nicht bewusst mit dem Thema beschäftigt habe. Ich wollte zwar gewiss kein "Lehrvideo" über autistische Warnehmung machen, die Darstellung ist sicher auch z.T. absichtlich übertrieben, aber da ich selbst natürlich mein erster Zuschauer und Kriticker war, und es mich selbst "beeindrucken" sollte, hat es schon etwas damit zu tun, wie ich die Welt eben erlebe.

Die anderen Teilnehmer (von denen vermutlich niemand autistisch war), luden Freunde ein, erdachten eine Handlung und drehten praktisch "kleine Spielfilme". Meine Herangehensweise war jedoch grundverschieden. Ich ging nicht von einer Handlung, sondern von "Bildern" , "Vorstellungen" und "Eindrücken" in meinem Kopf aus und versuchte, das zu einem "Ganzen" zu verknüpfen. Ich zeigte keine Menschen (zumindest keine Gesichter), stattdessen viele Details in sehr deutlicher (und eher ungewöhnlicher) Weise.

Diese Dinge zu produzieren war teilweise schwierig und "fummelig", z.T. Schnitte im Sekundentakt und ich verwendete auch viel Teit auf Details wie die Vertonung (andere liessen einfach Musik von CDs laufen).

Wir hatten öffentliche Vorführungen, in diesem Fall kam die Sache aber sehr gut an, ich erhielt viel Zuspruch, gerade _weil_ die Sachen deutlich anders waren, als das, was sonst gezeigt wurde und auf der Leinwand wirkte einiges noch viel "krasser" als auf meinem 17'' TFT.

Hat sich eigentlich jemand anders damit schon einmal künstlerisch befasst oder diese Dinge bewusst "genutzt"?

Ach ja, wer einen Eindruck haben möchte : http://www.ckoehler.de

Gruss
Christian
17.06.06, 12:51:11
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arlette
(Autistenbereich)

Zitat von christian_k:

Hat sich eigentlich jemand anders damit schon einmal künstlerisch befasst oder diese Dinge bewusst "genutzt"?

ja. im geschlossenen forum können wir ja einen thread eröffnen diesbezüglich freuen
17.06.06, 13:08:55
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christian_k
(Autistenbereich)

Zitat von arlette:

ja. im geschlossenen forum können wir ja einen thread eröffnen diesbezüglich freuen


Gerne (sobald es mit der Freischaltung klappt).
Ich interessiere mich nämlich auch besonders für positive Erfahrungen, die damit gemacht wurden.

Chris
17.06.06, 13:14:35
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arlette
(Autistenbereich)

ich mich auch. das thema wahrnehmung war für mich immer der mittelpunkt von irgendwelchen perfos etc. und dein wartebalken-film find ich sehr gelungen, er hat mir gefallen.
17.06.06, 13:24:11
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arlette
(Autistenbereich)

falls ich mal wieder was mache, habe ich mir schon notiert: christian_k fragen, ob ich den film als visual in der bar benutzen darf freuen
17.06.06, 13:25:22
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DrChaoZ
(Autistenbereich)

@christian_k

ja ich wollte mal an der kunsthochschule studieren aber bekam nach der eignungsprüfung eine absage trotz der vorigen ermutigungen seitens der pädagogen.

interresant an deiner aussage finde ich wie du bescchreibst wie das videoprojekt bei dir vorangeschritten ist und deine herangehensweise. ich habe nämlich auch mal ein videoprojekt in der oberstufe gemacht und mich ebenfalls auf eindrücke und details der alltagswelt konzentriert und dies in einer 'reisekollage' zusammengeführt, sehr viel wert auf die schnitte gelegt und die harmonie die die sequenzen mit der musik eingehen sollten. auch ich wollte damals versuchen der aussenwelt zu zeigen wie ich wahrnehme. allerdings wusste ich das damals noch nicht, sondern nahm an dass die menschen einfach nicht den mut haben ihren eigenen tunnelblick nach aussen zu demonstrieren und dies mit intersozialen aktionen überspielten freuen


offensichtlich gibt es potential für 'autistische filme' freuen
lust eine künstlervereinigung zu gründen?
20.06.06, 20:05:35
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arlette
(Autistenbereich)

ich habe als plan (falls ich mal zeit habe) ein projekt bezüglich wahrnehmung. es wäre mein wunsch, leute mit autismus oder ads zusammenzusuchen zu können, um unter dem begriff 'wahrnehmung' ein wochenende lang verschiedenes zu veranstalten. naja, wird wohl nächstes jahr.

p.s. dasselbe möchte ich mit dem thema 'schmerz' machen. und dann mal endlich ein 'lernfilmfestival', weil ich die lernfilme aus verschiedenen berufen absolut absurd und bizarr finde freuen

momentan komm ich jedoch leider nicht mal zu meinem soundprojekt. naja, wird sich sicher wieder ändern. zudem bin ich, sobald ich auf dem hyperfokus bin, sowieso innerhalb von 2 monaten viel produktiver als die meisten, die ich kenne und die viel mehr zeit dafür haben..
20.06.06, 20:23:35
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christian_k
(Autistenbereich)

Guten Abend,

(besonders an DrChaoZ und Arlette)

Zitat von DrChaoZ:
@christian_k
offensichtlich gibt es potential für 'autistische filme' freuen
lust eine künstlervereinigung zu gründen?


Ja, definitiv. Ich fände es toll, wenn man solche Interessen bündeln und auch Ergebnisse irgendwie präsentieren könnte (Ausstellungen, Vorführen, Web Auftritt,...). Darin sehe ich auch die Chance, nach aussen zeigen zu können, dass wir eben nicht immer nur "behindert" oder "Patient" sind und dauernd im Zugzwang, uns anpassen zu müssen, sondern dass wir eben auch etwas "schaffen" und mit unseren Fähigkeiten einen Beitrag leisten können.

Gruss
Christian
20.06.06, 20:32:19
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